Jul 262017
 

Ich bin gerade von Elternzeit in Sommerferien gewechselt und beschäftige mich die letzten Wochen wieder vermehrt mit Theorie und interessanten Themen, die im Schulalltag doch immer zu kurz kommen.

Auf der Suche nach historisch-gesellschaftskritischen Auseinandersetzungen mit Mathematik bin ich auf das Buch „Die Berechnung der Welt“ von 2014 von Klaus Mainzer gestossen, habe dies interessiert gelesen und möchte im Folgenden ein paar Gedanken zu diesem festhalten.

Mit einem historischen Abriss zu mathematischer und informatischer Theorieentwicklung stellt Mainzer im Buch fundiert seine kritische Position zu einer naiven, theoriefernen Daten-Empirie dar. In Zeiten von „Big Data„, wo die Auswertung einer bisher nicht vorstellbaren Menge von Daten auf Muster und insebesondere auf Korrelationen (Beziehungen zwischen zwei oder mehreren Merkmalen) mithilfe von Rechenleistung im gewissen Rahmen Erfolge liefert, plädiert er sympatischerweise für eine kritische mathematische und informatische Mündigkeit. Statt nur Muster zu erkennen und diese (vage) zu deuten geht es beim mathematischen Beweisen und logischen Schliessen um das „warum“, das theoriegeleitete Hinterfragen von Strukturen und das Wissen um Strategien und Grenzen der Berechenbarkeit. Der Reiz der schnellen Berechnung und Reduktion von Komplexität durch Datenanalysen statt aufwändiger mathematischer Verfahren liegt auch ökonomisch auf der Hand. Aber Korrelation von Daten ist nicht mit Kausalität überzuinterpretieren, was leider weit verbreitet ist (siehe zum Thema hier einfache Beispiele). Die Forderung nach kritischer Sicht auf Daten-Empirie leitet nicht in die relativierende Beliebigkeit, sondern in einen reflektierten Umgang mit der Erhebung und Interpretation von Daten und der Funktionsweise von Algorithmen.

Der Autor beschreibt die mathematischen Denkrichtungen und sich wandelnden philosophischen Sichtweisen auf die Welt, die von einer Suche nach einer „Weltformel“ bis hin zur Entwicklung der Theorie der Turingmaschine als formales Konzept für alle modernen informatischen Rechner-Systeme und automatisierbaren Berechnungen verläuft. Dabei ist eine grundlegende Frage zur Berechenbarkeit immer, ob sich soziale Wesen und menschliche Gesellschaft überhaupt vergleichbar einer Maschine oder naturwissenschaftlicher Systeme in seiner ganz anderen Form der Komplexität erfassen lässt. Eine weitere Frage war und ist, inwieweit Prognosen auf Grundlage von beobachteten Mustern tragfähig sind, wie häufig in Naturwissenschaften der Fall, oder ob wie bei der Analyse dynamischer, nichtlinearer Systeme in der Ökonomie manche Prognosen mit zu einfachen mathematischen Modellierungen erstellt werden und nicht greifen.

Positiv finde ich auch das im Buch vorgestellte Plädoyer für integrative Forschung, die sich nicht in ihren Einzelwissenschaften vergräbt, sondern sich interdisziplinär den Herausforderungen soziotechnischer Systeme stellt. Gerade um Grenzen der jeweiligen unterschiedlichen Methodiken und Strategien in anderen Wissenschaften auszuloten, ist ein Austausch von Sozial- und Naturwissenschaften sowie den Strukturwissenschaften Philosophie, Mathematik und Informatik für die kritische Begleitung des technologischen Wandels unbedingt notwendig.

„Warum passt die Mathematik so gut auf die Welt?“ wird im letzten Kapitel nicht abschliessend geklärt – dies wird vermutlich auch eine Glaubensfrage bleiben, wie ich vermute, da weder die Theorie, dass „mathematische Strukturen Konstruktionen des menschlichen Geistes“ seien, noch die Theorie dass sie „reale Strukturen der Welt“ seien, bewiesen werden kann.

Weitere Quellen zum Thema: