Dez 172015
 

Mathematik ist nicht trocken, sondern voller Phantasie, nicht langweilig, sondern voller Schönheit, logisch, aber dennoch von ungeheurer Kreativität, uralt, aber voll neuer Ideen.“ (Aus dem Vorwort zum Buch)
Auf der Suche nach Inspirationsquellen und Ideen für meine Schüler/innen in der Oberstufe, die alle eine Ausarbeitung über ein mathematisches Thema schreiben müssen, habe ich mir von einem Kollegen der Mathe-Fachschaft das Buch „Oh Gott, Mathematik!?“ ausgeliehen und möchte hier ein paar Eindrücke schildern und damit auch das Buch empfehlen.


In den 90ern erschienen schildert das Buch auch einen interessanten „Rückblick in die Zukunft“ im Kapitel „Mathematik und Computer“, wo für mich, der ich in diesem Zeitraum Schüler war, noch einmal der damalige Stand der Technik und Informatik deutlich wird. In der Vergangenheit geschriebene Erwartungen an die Zukunft der Technologien finde ich meistens besonders interessant, weil dadurch auch eine Abwägung möglicher Alternativen im Rückblick möglich wird und es auch einen Hauch von Science Fiction in sich trägt.

Mathematik und Gesellschaft

Das Buch richtet sich an Laien, hat aber eine ganze Menge anspruchsvoller Beispiele in sich, wie Mathematik geholfen hat und immer noch hilft, Sachverhalte zu analysieren, zu modellieren und Problemlösungen zu erarbeiten. Ein für mich interessanter Aspekt ist einerseits die Betonung des „Kulturellen“ in der Geschichte und Gegenwart der Wissenschaft und damit auch die Hinterfragbarkeit von mathematischen Erkenntnissen, zum anderen die Auseinandersetzung mit der reinen Mathematik im Kontrast zur Angewandten. Dabei wird gleich zu Beginn das Bild von Mathematik und Mathematiker/innen in der Gesellschaft mit seinen Trugschlüssen und Vorbehalten angesprochen. Verschiedene Persönlichkeiten werden vorgestellt und ihre Beziehungen zu anderen Gesellschaftsbereichen wie Architektur, Kunst oder Musik. Die geringe öffentliche Präsenz der Mathematik wird angesprochen und die Frage nach der Nützlichkeit, die gerade oft auch die angewandte Mathematik von der Reinen unterscheidet. Die Zweckbindung wird kritisiert, indem die Frage um

Die angesprochene Ähnlichkeit zwischen der Informatik und der Mathematik hat sich für unsere heutige Generation weitestgehend relativiert. Die Informatik erscheint den Autoren als neues Phänomen. Die Popularität der Rechnernutzung nahm Anfang der 90er mit der Verbreitung von PCs  drastisch zu, somit verwundert es nicht, wenn gefragt wird, ob sich eine neue „Computermathematik“ entwickelt und sich das Mathematikstudium gegenüber dem modernen Informatikstudium abgrenzen und behaupten muss. Mein Eindruck ist, dass sich die Wissenschaften heute sehr deutlich voneinander abgrenzen, vor allem in Bezug auf neue Medien und neue Forschungsgebiete und Berufsbilder der Informatik, die mit Mathematik weniger als zuvor zu tun haben.

Wird Mathematik „gefunden“ oder „gemacht“?

Ein auch für die Schulmathematik sehr interessanter Aspekt ist die Auseinandersetzung, ob man Mathematik „findet“ oder „macht“. Philosophisch und psychologisch eine sehr basale Frage, die viele Konsequenzen hat. Ist der Mensch dem Gegebenen, Perfekten auf der Spur oder ist Mathematik immer nur Annäherung und mehr oder weniger angemessenes Modell? Die heutige Sicht bejaht eindeutig zweite Ansicht, aber für viele Schüler/innen ist dies nicht so eindeutig klar. Ich als Mathelehrer erlebe gerade in diesem Zusammenhang häufig Mißverständnisse. Je abstrakter die Regeln und Gesetzmäßigkeiten, als desto unhinterfragbarer werden sie hingenommen. Die schwierigsten Aufgaben und Problemstellungen für Schüler/innen sind die, welche zunächst eine Auswahl verlagen, ein passendes Modell oder eine passende Strategie zu verwenden, gegebenenfalls zu verwerfen und die Brauchbarkeit zu reflektieren.

An Beispielen wird im Buch deutlich gemacht, wie Mathematiker/innen arbeiten, wie sie als „Quer(schnitt)denker“ Systematiken und Parallelen in ganz verschiedenen Anwendungen erkennen und strukturieren. Auch ein Thema für die Schule – Lösungen für mathematische Probleme zu finden ist kein linearer Prozess, sondern hat kreative Schübe und Durststrecken, wie ich es auch im Studium erleben konnte. Wichtig ist die Beharrlichkeit, die teils aus Spieltrieb, teils aus Pragmatismus entstehen kann.

Einige Seiten des Kapitels „Der Rohstoff für die Bildung von Modellen“ habe ich meinem Kurs zur Verfügung gestellt, um über die Motivation von Ableitungen und Extrempunkten in Graphen zu diskutieren. Leider wird in Schulen wie ich sie kenne viel zu wenig über die Entstehung mathematischer Ideen gelesen und gesprochen. Aufgaben im Textformat sind nicht zu verwechseln mit mathematischen Texten, die Bezug nehmen auf historischen und ästhetischen Fragestellungen, die die Mathematik geprägt haben.

Mathematik und Computer

Viele halten die Beschäftigung und das Arbeiten mit Computern für die mathematische Arbeit schlechthin.„(S.210)
Ich habe nie als Mathematiker gearbeitet und kann das „typische“ Arbeitsumfeld schwer einschätzen. In meinem Studium hatte ich viele Begegnungen mit Arbeitsweisen der Mathematik, die absolut nichts mit Rechnern zu tun hatten. Vielleicht war dies auch ein Zeitgeist, der sich etwas gelegt hat. Was dagegen ungebrochen ist und mich auch in meiner Arbeit als Lehrer dauernd begleitet, sind Stift und Papier, Kreide und Tafel. Skizzieren, ein Problem darstellen, kritzeln und Ideen festhalten kann ich mir, wie die Autoren es ganz ähnlich schildern, ohne Stift und Papier nicht vorstellen.

Paul Halmos wird in Bezug auf Mathematik und Computer zitiert „Mathematik hat es nicht eilig“ sowie „So, ist der Computer wichtig für die Mathematik? Meine Antwort ist nein. Er ist wichtig, aber nicht für die Mathematik„(S.211) und im Gegensatz dazu sowjetische Mathematiker, die Computer für formale Beweise einsetzen (siehe auch: https://de.wikipedia.org/wiki/Maschinengest%C3%BCtztes_Beweisen) und darin die Zukunft der Mathematik sehen. Dies hat sich soweit ich es überblicke nicht bewahrheitet, auch wenn maschinengestützes Beweisen stattfindet. Ein bekanntes Beispiel ist der Beweis des Vier-Farben-Satzes, der vor Erscheinen des Buches veröffentlicht und im Laufe der Zeit verbessert wurde.

Die enge Verbundenheit der Mathematik mit der Entstehung der Informatik wird deutlich erwähnt: „Zunächst sollte man sich erinnern, dass es Mathematiker waren, die den Computer geschaffen haben„(S.217) und die Geschichte und das Wirken von John von Neumann und seine Maschine EDVAC besprochen.

Abschliessend wird ein Kapitel der unumgänglichen Verantwortung jedes/r Wissenschaftler/in gewidmet, einem heute wie damals wichtigem Thema, vor allem, wenn man sich andauernde Kriege und immer perfektionistischere Waffenentwicklung vor Augen führt. Hier spielen Mathematiker/innen und Informatiker/innen leider seit Generationen einer besonders relevante Rolle. Hier werden zwei Wege beschrieben, das Einschränken des Nachdenkens, das begründet verworfen wird und als zweites das Verbot der Anwendung gewisser Erkenntnisse, was als praktikabel erscheint. Besonders wichtig erscheint mir, dass es viele Aspekte des menschlichen Lebens gibt, die nicht mathematisierbar und strukturierbar sind, aber großen Einfluss auf das individuelle Handeln haben. „Es ist der Teil der Menschen, der der Mathematik, aber natürlich nicht dem Mathematiker, verschlossen bleibt: Liebe und Haß, Freude und Trauer, Schönheit und Häßlichkeit sind nicht mathematisch fassbar.“ (S.240)

Ein interessantes Buch, das den Blick für bestimmte Teilaspekte schärft, die im Schulalltag manchmal verloren gehen und die Vielfalt und Verwobenheit der Mathematik mit Gesellschaft betonen. Gerade die Kontextualisierung, zum Beispiel in mathematischen Projekten erscheint mir zukunftsweisend, auch wenn ich bisher wenig Erfahrungen in diesem Bereich sammeln konnte.

„Oh Gott, Mathematik!?“; H.Neunzert, B.Rosenberger; B.G.Teubner Stuttgart/Leipzig 1997 ISBN 3-8154-2514-X
(http://www.lehmanns.de/shop/mathematik-informatik/198611-9783815425145-oh-gott-mathematik)

  One Response to “Rezension „Oh Gott, Mathematik!?“ Neuzert/Rosenberger”

  1. Interessanter Artikel. Vor allem die Frage „Wird Mathematik gefunden oder gemacht?“ finde ich faszinierend. Das Buch ist auf jeden Fall auf meiner Leseliste.

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