Am zweiten Tag der Fortbildung haben wir uns zunächst mit Ableitungen (derivado) von Funktionen beschäftigt und Formen, wie dies einsichtig gelehrt werden kann, ohne formale Definitionen überzustrapazieren. Der Referent zeigte zwei kleine Videos, die sich auf youtube finden lassen, eines eingängig als Song („I will derive„), das andere eher historisch-problemorientiert. Ein Hinweis einer Kollegin bezog sich auf die online Software „Symbolab„, mit der sich (nicht nur) Ableitungen berechnen lassen.
Danach führten wir ein Experiment durch mit kleinen gleichaussehenden Beutelchen, in denen sich verschiedenfarbige Steine befinden. Alle Beutel haben gleichen Inhalt, zehn Steine, aber es soll nur durch Hausnehmen und Zurücklegen einzelner Steine herausgefunden werden, wieviele Steine welche Farbe haben. Danach wurden die Ergebnisse bei 20 mal ziehen in einer Excel-Tabelle eingetragen und die relative sowie absolute Häufigkeit in der Summe berechnet. Dies zeigt zum einen die wachsende Güte der Stichprobe bei wachsender Anzahl Ziehungen und lässt zum anderen als aha-Effekt am Ende die Vermutete Anzahl und die tatsächliche Anzahl vergleichen. Dies kann ich direkt in der 10.Klasse einsetzen, sobald ich mir das Material hergestellt habe, da wir genau das Thema Häufigkeiten (frecuencias) und theoretische Wahrscheinlichkeit (probabilidad) behandeln.
Die Grenzen der LaPlace Wahrscheinlichkeit kann anhand von kontinuierlichen Experimenten dargestellt werden, z.B. mit einem Papier in vier Teilen, wovon eines eingefärbt ist und das Nadel-Experiment. Hier wird eine unendliche Anzahl von günstigen Ereignissen durch eine unendliche Anzahl geteilt, was unmöglich ein Ergebnis erzielen lässt. Somit werden Wahrscheinlichkeitsfunktionen motiviert.
Daraufhin lernten wir die formalen Bewertungsraster des IB kennen, z.B. wann welche Teilpunkte in Examen gegeben werden. Hier wurde vom Referenten seine Erfahrung in Lateinamerika mitgeteilt, dass Schüler/innen in Lateinamerika herausragend dazu neigen, mehr zu schreiben als nötig und dadurch Zeit zu verlieren. Die Punktuation in den IB-Examen orientiert sich an Zeit. Es gibt 90 Minuten Bearbeitungszeit und 90 Punkte maximal. Daher sollte besonders darauf geachtet werden, seine Zeit gut einzuteilen. Für mich interessant sind auch die spanischen Fachtermini, z.B. ist der Folgefehler ein „kriechender Fehler“ (arrastra error) im Spanischen.
Danach widmeten wir uns exemplarisch dem Taschenrechner, der eine viel größere Rolle einnimmt, als ich es aus meiner eigenen Schulzeit kenne. Umfangreiche Computer, die nicht nur direkt Näherungswerte bestimmen, sondern auch stochastische Modelle und grafische Methoden umsetzen können. Wir nahmen uns eine Aufgabe aus einem IB-Examen vor, wo die Normalverteilung zugrundegelegt wird, um Baumgrößen über gegebene Charakteristiken der Verteilung zu bestimmen. In der Aufgabe enthalten sind sowohl einfache nicht-diskrete Zufallsvariablen zu verwenden, als auch eine bedingte Wahrscheinlichkeit und eine Aufgabe mit stochastisch unabhängigen Ereignissen, sowie ein Erwartungswert. Das Potential unseres Taschenrechners überschaue ich auch nach einem Jahr noch immer nicht und lerne ständig dazu.
Als Inspirationsquellen für die Exploración in Mathematik schauten wir uns ein kleines Video zu Unendlichkeiten an, das „hotel infinito“, das wir auch im Mathematikstudium als Vorstellung genutzt hatten. Außerdem wurden uns einige Bücher, auch literarischer Art vorgestellt, z.B. „los crimenes de Oxford“ von Guillermo Martinez, „Historia e historias de la matemática“ von Mariano Perero und der Film „codigo enigma“ zu Alan Turing und Kryptographie. Zusätzlich bewerteten wir mit Hilfe der Qualitätskriterien einige schriftliche Arbeiten von Schüler/innen und verglichen unsere Einschätzungen mit denen der tatsächlichen Prüfer/innen, die diese zu bewerten hatten. Dies war interessant, auch um das erwartete Niveau besser einschätzen zu können. Es wird eine echte Fragestellung, die nicht rein reproduktiv ist, sondern ein bekanntes Konzept auf weitergehende Fragen ausweitet, erwartet. In diesem Bereich wird am häufigsten aus Mangel an Originalität und persönlichem Bezug nicht die volle Punktzahl erreicht. Die Form, Darstellung und Tiefgang der verwendeteten Mathematik wird ebenso bewertet, wie der Aufbau und Gesamteindruck der Arbeit. In etwa wie eine vorwissenschaftliche Facharbeit, die wir eine Zeit lang in Niedersachsen in der 12. Klasse im Leistungskurs schreiben mussten. In Abgrenzung hierzu gibt es die Mongraphie, die allerdings selten in Mathematik angefertigt wird.
Als Inspiration und Anwendung beschäftigten wir uns daraufhin mit dem Kartenspiel „escoba de 15“ (15er rausfegen) und mathematischen Strukturen.
Entdeckendes Lernen und offene Aufgabenstellungen sind die Richtung, die vom IB erwartet wird, aber hier noch seltener als in Mitteleuropa stattfindet.
Ein weiteres inspirierende Beispiel war die Präsentation eines Graphen in Geogebra, der sich je nach Skalierung stark in seiner Form unterscheidet, zunächst wie eine Parabel, dann wie eine Sinuskurve. Dies kann Aufhänger sein, im Mathematikunterricht über Wahrheiten und Wahrnehmungen zu diskutieren oder auch Arbeiten in diesem Themenbereich anzufertigen. Generell ist das Konzept des IB-Diploms viel stärker mit Erkenntnistheorie / theory of knowledge verknüpft, als ich es praktisch beobachten kann. Hier sollten die einzelnen Fächer stärker vernetzt sein.
Abschliessend diskutierten wir anhand von Beispielen Plagiat-Regelungen und welches Format von Zitaten erwartet wird, sowie die Berechnung der Gesamtnote des Faches aus den Einzelnoten. Da die Arbeiten zentral und anonym begutachtet werden, nachdem der Fachlehrer einen Vorschlag zur Beurteilung unterbreitet, sind die Vorgaben und Formate wie in einer Art Zentralabitur sehr entscheident. Bei Nichtbestehen einzelner Prüfungsteile können diese wiederholt werden, aber es fallen zusätzlich die Kosten eines wiederholten Schuljahres an, die nicht gering sind.
Die Fortbildung neigt sich ihrem Ende, es werden noch Fragen zu Monographie und Exploración geklärt und dann geht es zurück nach Cuenca, um morgen wieder in der Schule zu stehen. Die Form der Fortbildung war für meinen Geschmack etwas zu wenig interaktiv, aber die Erwartungshaltung der Teilnehmer/innen scheint auch eher ein Experten-Vortrag zu sein, wie er in den Bildungssystemen der Region, ob an Uni oder in der Schule generell vorherrscht. Hinzu kommt, dass viele Kolleg/innen gerade am Anfang ihrer Tätigkeit im IB-Programmes stehen, so dass auch gar nicht so viel Austausch möglich ist. Für den Anfang inspirierend, aber für eine ähnliche Fortbildung würde ich mir mehr konkreten fachdidaktischen Austausch in Kleingruppen wünschen.